Haftung des Pistenchefs – Bundesgericht hebt Freispruch auf

Das Bundesgericht hat sich mit Urteil 6B_160/2022 vom 5. Oktober 2022 mit der Haftung eines Verantwortlichen für Pistensicherheit auseinandergesetzt.

Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 26. Februar 2015 verunfallte eine 13-jährige Skischülerin im Berner Oberland (Adelboden) auf einer Skipiste. Gemäss Anklage war sie auf der letzten Abfahrt kopfvoran in einen sich leicht neben der Piste befindenden, vom Schnee bedeckten Bach gestürzt. Dabei zog sie sich unter anderem schwere Leberverletzungen zu und blieb mehrere Minuten kopfüber im tiefen, nassen Schnee (Bachwasser) liegen, von wo sie erst unter Mithilfe mehrerer Personen geborgen werden konnte. Die Skischülerin verstarb noch am Unfalltag. Die Regionale Staatsanwaltschaft Oberland erhob am 30. April 2019 Anklage gegen den Verantwortlichen für Pistensicherheit (nachfolgend: der Beschuldige) wegen fahrlässiger Tötung, weil er es pflichtwidrig unvorsichtig unterlassen habe, den Graben zu beseitigen oder wirksam zu sichern.

Die erste Instanz erklärte den Beschuldigten der fahrlässigen Tötung schuldig. Die zweite Instanz sprach ihn in der Folge indes frei, da der Unfall hauptsächlich auf einen Kontrollverlust des Opfers zurückzuführen war. Gegen dieses Urteil wurde nun Beschwerde beim Bundesgericht erhoben.

Gerügt wurden ein willkürliche Beweiswürdigung der Vorinstanz und eine Verletzung der Beweiswürdigungsregel «in dubio pro reo» (Unschuldsvermutung). Gemäss Art. 10 Abs. 3 StPO geht das Gericht von der für die beschuldigte Person günstigeren Sachlage aus, wenn unüberwindliche Zweifel daran bestehen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen der angeklagten Tat erfüllt sind. Die Unschuldsvermutung verbietet es gemäss ständiger Rechtsprechung, bei der rechtlichen Würdigung eines Straftatbestands von einem belastenden Sachverhalt auszugehen, wenn nach objektiver Würdigung der gesamten Beweise ernsthafte Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt tatsächlich so verwirklicht hat, oder wenn eine für die beschuldigte Person günstigere Tatversion vernünftigerweise nicht ausgeschlossen werden kann. Auf die Frage, welche Beweismittel zu berücksichtigen und wie sie gegebenenfalls zu würdigen sind, findet der In-dubio-Grundsatz gemäss ständiger Rechtsprechung keine Anwendung; Er kommt erst zum Tragen, nachdem alle aus Sicht des urteilenden Gerichts notwendigen Beweise erhoben und ausgewertet worden sind, das heisst, bei der Beurteilung des Resultats der Beweisauswertung.

Das Bundesgericht kommt zum Schluss, die Vorinstanz habe den In-dubio-Grundsatz nicht erst nach der Würdigung sämtlicher relevanter Beweismittel angewandt. Die Vorinstanz halte in ihrer Beweiswürdigung fest, dass in Anwendung des In-dubio-Grundsatzes davon auszugehen sei, dass der Pistenverlauf und der Pistenrand auch für die Verunfallte erkennbar gewesen seien. Ebenso habe die Vorinstanz «in dubio pro reo» angenommen, dass nach dem Unfall zusätzliche Spuren durch weitere Schneesportler, Zuschauer, Gaffer, Rettungskräfte oder andere Personen auf dem fraglichen Pistenabschnitt entstanden seien und der auf der Fotodokumentation abgebildete Pistenrand nicht demjenigen zum Unfallzeitpunkt entspreche. Sodann sei «in dubio pro reo» davon auszugehen, dass die Verunfallte die Kontrolle über ihre Skier verloren habe und deshalb statt dem Nebenweglein entlang zurück auf die Piste rechts von den Markierungsstangen in den Graben gefahren sei. Der Unfall hätte aufgrund des Kontrollverlusts nicht verhindert werden können, was auch für die Anbringung eines Markierungsseils «in dubio pro reo» gelte, da Markierungsseile nicht zum Auffangen oder Rückhalten der Skifahrer geeignet seien, sondern nur auf eine Gefahr hinweisen würden.

Der In-dubio-Grundsatz hätte laut Bundesgericht gemäss konstanter Lehre und Rechtsprechung aber erst nach erfolgter Gesamtwürdigung, falls relevante Zweifel verblieben wären, herangezogen werden dürfen. Die mehrfache Würdigung von Beweismitteln zu den einzelnen Sachverhaltsteilen zugunsten des Beschuldigten unter Berufung auf den In-dubio-Grundsatz ergebe ein zugunsten des Beschuldigten verzerrtes Bild und widerspreche der Rechtsprechung zur Anwendung des Grundsatzes «in dubio pro reo». Eine solche Beweiswürdigung sei bei objektiver Würdigung des gesamten Beweisergebnisses offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich.

Im Ergebnis hiess das Bundesgericht die Beschwerde gut und wies die Beschwerde zur Neubeurteilung im Sinne der bundesgerichtlichen Erwägungen an die die Vorinstanz zurück.