Die Bilder bewegen die Welt: Der pakistanische Hochträger Mohammed Hassan hing kopfüber in den Seilen, als zahlreiche Gipfelstürmer am 27. Juli 2023 über ihn kletterten. Die Gipfelstürmer wollten ihren Gipfelerfolg nicht gefährden und entschieden sich für den Gipfel und somit gegen den Versuch, einen Sterbenden zu retten.
Eine zusammenfassende Darstellung der Ereignisse kann hier nachgehört werden:
Die Tatsache, dass – gerade bei Expeditionen im Extrembergsteigen – Alpinist:innen in Bergnot zurückgelassen werden, ist keine neue Erscheinung. Exemplarisch kann auf einen Vorfall am Mount Everest im Mai 1996 verwiesen werden: Drei indische Bergsteiger scheiterten bei ihrem Versuch, den Gipfel über die Nordroute von der chinesischen Seite aus zu besteigen und sie verbrachten die Nacht auf rund 8700 M.ü.M. im Freien. Am nächsten Tag wurden sie von zwei aufsteigenden japanischen Bergsteigern angetroffen. Die Japaner zogen an den Indern vorbei und erreichten erfolgreich den Gipfel. Als sie auf ihrem Abstieg erneut die indische Seilschaft kreuzten, war ein Inder zwischenzeitlich verschwunden. Ein Inder lebte noch, der Zustand des Dritten war unklar. Die Japaner stiegen ohne Hilfeleistung ab. Später wurden die Leichen aller drei Inder gefunden. Auf die Frage eines Journalisten, weshalb keine Hilfeleistung erbracht worden sei, erwiderte einer der japanischen Bergsteiger: «Oberhalb von 8000 Meter Höhe ist kein Ort, an dem sich Menschen so etwas wie Moral leisten können» (vgl. Quellenangaben in : Rahel Müller, Haftungsfragen am Berg, Zürich/St. Gallen 2016, N. 260).
Ein Versuch einer rechtlichen Einordnung:
Zwischen voneinander unabhängigen Touren-/Expeditionsgruppen besteht kein Vertragsverhältnis und keine rechtliche Sonderbeziehung. Gemäss Schweizer Recht besteht jedoch eine strafrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung (Art. 128 StGB): Wer einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen nach zugemutet werden kann, macht sich strafbar. Diese Verpflichtung trifft sämtliche Bergsteiger:innen. Das Element des Zumutbaren berücksichtigt Wissen und Können der hilfeleistenden Person. Unzumutbar ist eine Hilfeleistung sodann, wenn ihre Erbringung für den Hilfeleistenden eine erhebliche Gefahr darstellt, was insbesondere dann zutrifft, wenn das eigene Leben oder die Gesundheit durch die Rettung gefährdet wird. Die Nothilfe zwingt nicht zu einem Heldentum, sie erfordert aber durchaus die Inkaufnahme gewisser Opfer und Nachteile. Das Argument, durch die Hilfeleistung werde der eigene Gipfelerfolg gefährdet, vermag gemäss meiner Einschätzung nicht von der Verpflichtung zur Nothilfe zu befreien. Die Unterlassung der Hilfeleistung wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft und könnte sodann die Widerrechtlichkeit einer unerlaubten Handlung i.S.v. Art. 41 OR begründen. Mit anderen Worten: auch zivilrechtliche Forderungen sind grundsätzlich denkbar (zum Ganzen: Rahel Müller, op.cit., N. 263 ff.).
Unabhängig von der rechtlichen Einordnung der Nichtunterstützung von Bergsteiger:innen in Bergnot zeigt sich die moralische Frage: In welcher Gesellschaft leben wir, wenn ein Gipfelerfolg höher gewichtet wird als der Versuch, eine sterbende Person zu retten?
Dr. iur. Rahel Müller ist Mitglied des Zentralvorstandes des SAC, Mitglied der Kommission Recht SAC, Autorin von Haftungsfragen am Berg (ISBN: 978-3-03751-822-9) und verschiedener weiterer Publikationen im Gebiet des Alpin- und Bergsportrechts. Sie ist Mitgründerin und Partnerin der Anwaltskanzlei brumann müller recht in Bern, Schweiz.